Nicht blind für Gegenwart
54 jüdische Naumburger waren durch die Nationalsozialisten verfolgt und ermordet worden. Für jeden von ihnen legen Schüler am gestrigen Freitag eine weiße Rose am Wenzelsbrunnen ab.
Rund 200 Schüler versammeln sich auf dem Markt. Ihretwegen haben Stadt und Evangelische Kirchgemeinde das Gedenken einen Tag vorverlegt.
Laura Unger trägt ihr Gedicht „Sehnsucht nach Syrien“ vor. (Biel)
VON HARALD BOLTZE
NAUMBURG Fünf Minuten vor Beginn des Pogromgedenkens auf dem Naumburger Markt trafen sich am gestrigen Freitagvormittag etwas abseits zufällig zwei Männer. Mit abfälligem Blick zu den versammelten Schülern sagte einer von ihnen, wohl im Rechnen unbegabt, zudem ohne Interesse an geschichtlicher Aufarbeitung „Das is siebzich Jahre her, ey. So’n Quatsch.“
Wenig später, nachdem Mädchen und Jungen der Freien Schule im Burgenland „Jan Hus“ das Programm mit jüdischer Musik begonnen hatten, ergriff Pfarrer Andreas Rietschel das Wort. Er hatte die beiden Männer sicher nicht gehört. Und doch – weil dieser „Quatsch“- eben keine Einzel-Meinung ist – stellte Rietschel genau die Frage in den Raum, ob man nicht die Vergangenheit ruhen lassen soll. Wobei er dies sofort verneinte und Richard von Weizsäcker zitierte, der einst gesagt hatte: „Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“
Am 9. November 1938, der sogenannten Reichspogromnacht, kam es zu schweren Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung in ganz Deutschland. Es war der „Startschuss zum größten Völkermord in Europa mit über sechs Millionen ermordeten Juden“, wie Rietschel erklärte. Aus Naumburg waren es 54 jüdische Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt und getötet wurden. Ihrer wurde auf dem Markt besonders gedacht. Greta Apostel und Noah Herrmann, ebenfalls von der Freien Schule, die das Programm maßgeblich gestaltete, lasen ihre Namen vor. Anschließend legten 54 Schüler weiße Rosen am Wenzelsbrunnen ab. Eindrücklich zudem, wie Laura Unger (9. Klasse) mit ihrem selbst geschriebenen Gedicht „Sehnsucht nach Syrien“ den Bogen ins Heute schlug. Ebenso nachdenklich machte das Gedicht, das Benjamin Mächler (10. Klasse) nach einer Fahrt mit seiner Schule nach Auschwitz verfasst hatte.
Wie nah Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit noch immer sind, sprach Naumburgs stellvertretender Oberbürgermeister Armin Müller an, der an das Attentat und den versuchten Massenmord in einer Synagoge in Halle erinnerte. „Wir setzen heute auch ein klares Zeichen gegen Antisemitismus“, so Müller.
Wie aus Gedanken Worte und später Taten werden, verdeutlichte Pfarrer Hans-Martin Ilse. Der Großteil der rund 200 Schüler verschiedener Einrichtungen hörte nachdenklich zu. Einige mussten zwecks Kichern und Tuscheln von ihren Lehrerinnen ermahnt werden. Doch wer will auf die Jugend schimpfen, wenn Gedenken und Aufarbeitung auch vielen Erwachsenen fremd sind.
Armin Müller
Vize-Oberbürgermeister